Signatur | StAZH ABl 1955 (S. 746-752) |
Titel | 518 Bericht und Antrag des Regierungsrates an den Kantonsrat zur Motion Nr. 845 betreffend Naturheilverfahren. (Vom 22. September 1955.) |
Datum | 07.10.1955 |
P. | 746–752 |
Der Kantonsrat hat dem Regierungsrat am 6. September1954 folgende Motion zur Prüfung überwiesen:
«Der Regierungsrat wird eingeladen, dem Kantonsrateinen abklärenden Bericht zu erstatten, wie an unserenstaatlichen Lehranstalten die Forschung und die Lehreüber das Naturheilprinzip und das Naturheilverfahrengefördert wird und welche Vorteile daraus für die Erhaltung der Gesundheit und die Krankenheilung zu erhoffensind.»
Der Regierungsrat erstattet hiezu folgenden Bericht:
Die sogenannten Naturheilverfahren stützen sich sowohlin der Behandlung als auch in der Vorbeugung der Krank-
[p. 747]heiten auf physikalische, klimatische und diätetische Anwendungen sowie auf eine gesunde, natürliche Lebensführung.Es handelt sich dabei um Verfahren, die schon im Altertumangewendet wurden und in der Krankenbehandlung immereine mehr oder weniger grosse Rolle gespielt haben.
Zu einer Art Volksbewegung wurde die Naturheilkundeerst, als die vorher von Ärzten propagierte Kaltwasseranwendung mit Priessnitz und Kneipp zu Beginn, bzw. in der Mittedes 19. Jahrhunderts in die Hände von Nichtärzten übergingund sich damit in einen betonten Gegensatz zur sogenanntenSchulmedizin stellte. Im Kanton Zürich wurde die Wasserbehandlung allerdings durch Ärzte eingeführt, im besonderendurch Dr. Brunner, der 1839 die Wasserheilanstalt Albisbrunngründete, und Dr. Egli, der anfangs der neunziger Jahre dieKuranstalt Arche in Affoltern a. A. einrichtete.
Um die Jahrhundertwende hatte sich der Begriff derNaturheilkunde stark mit der Vorstellung eines Gegensatzeszur Hochschulmedizin und mit dem Gedanken einer Ausübungder Heilkunde durch Nichtärzte vermengt. Dies führte im Jahre1903 zu einem von der zürcherischen Naturheilbewegung gestellten Initiativ-Begehren «zur Freigebung der arzneilosen Heilweise». In diesem Initiativbegehren wurde die Naturheilkundedefiniert als «diejenige Heilkunde, die keine Medikamente verwendet, die arzneilose Heilweise oder sogenannte Naturheilkunde (Kneippkur, Wasseranwendungen, Luft- und Sonnenbäder, Diätvorschriften, Massage usw.)». Hauptinhalt der Initiative waren allerdings nicht die Naturheilverfahren, sonderneine ziemlich uneingeschränkte Kurierfreiheit. Die Initiative.wurde in der Volksabstimmung vom 27. November 1904 verworfen.
Der Naturheilbewegung haben sich immer wieder Leuteangeschlossen, die für die Naturheilkunde den Anspruch erhoben, die ausschliessliche und allein wirksame Form der Heilkunde zu sein. Andere Leute propagierten irgendein ausgefallenes Verfahren und schädigten damit den gesunden Kernder Naturheilkunde, dem gerade die unnatürliche Einseitigkeitfremd ist. Diese Bestrebungen haben den Einbau der Natur-
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In der Propagierung einer gesunden, natürlichen Lebensführung, die zweifellos ein Hauptverdienst der Naturheilbewegung darstellt, haben sich die Verhältnisse stark geändert.Neben den Luft- und Sonnenbädern der Naturheilvereine sindgrosse öffentliche Freiluftbäder entstanden. Die heutige Bekleidung der Frauen übertrifft in hygienischer Hinsicht alle früheren Reformbewegungen. Der offene Hemdkragen des Mannesist nicht mehr das Abzeichen des Naturheilanhängers. Die Ernährung ist im allgemeinen ausgeglichener und natürlichergeworden. Die Wissenschaft hat mit der Erforschung der Vitamine weitgehend dazu beigetragen. Die Erwachsenenernährungist zwar noch nicht durchgehend so, wie sie sein sollte undsein könnte. Dies ist aber weniger eine Frage der Erkenntnisals der menschlichen Eigenart. In der Ernährung der Säuglinge und Kleinkinder, die essen müssen, was man ihnen verabreicht, haben sich die Vorschläge der Kinderheilkunde besserdurchgesetzt. Die einseitige Ernährung mit Kindermehlen istverschwunden und hat einer natürlichen Ernährung Platzgemacht.
[p. 749]Aus diesen einleitenden Ausführungen ist ersichtlich, dassdie wirkliche Naturheilkunde nicht aus den zahlreichen unklaren und unfassbaren, rasch auftauchenden und ebenso raschwieder verschwindenden Heilverfahren besteht, sondern ausklaren und einfachen physikalischen, klimatischen und diätetischen Anwendungen. Diese Wirkungsfaktoren waren in derNatur immer vorhanden und sind in mehr oder weniger starkem Ausmasse für die Krankenbehandlung herangezogen worden. Auch der Motionär scheint dieser Auffassung zu sein,wenn er die Naturheilkunde nicht im Gegensatz zur wissenschaftlichen Medizin und zu den wissenschaftlich ausgebildetenÄrzten behandelt haben will, sondern in Zusammenhang mitder Forschung und Lehre an den staatlichen Lehranstalten.
Naturheilkunde lässt sich ihrem Wesen nach nur aufbauenauf einer genauen Kenntnis der Einwirkung in der Natur vorkommender Wirkungsfaktoren auf den menschlichen Körper.Dies setzt wiederum eingehende Kenntnisse der Natur im allgemeinen und der natürlichen Lebensvorgänge im Körper voraus. Die Lehre von den Vitaminen ist dafür ein bezeichnendesBeispiel.
Die Kenntnisse der natürlichen Lebensvorgänge sind abernicht nur die Basis für den Aufbau jeder zweckmässigen Krankheitsheilung, sondern ganz besonders auch Voraussetzung fürjede natürliche Krankheitsverhütung. Forschung zur Erhaltung der Gesundheit ist Grundlagenforschung. Die Anwendungder Forschungsergebnisse ergibt sich mehr oder weniger vonselbst. Es ist ein hervorstechender Zug der heutigen Hochschulmedizin, dass sie sich neben der Erforschung der Krankheiten in ganz besonderem Masse wieder der Grundlagenforschung widmet, und zwar nicht nur in den theoretischen Instituten, sondern auch an den Kliniken. Als Beispiele seien nurdie Hormone, der Blutstoffwechsel, die Bluteiweisse, die Atmung, die Reaktion der Haut und die Viren genannt. Wie starkdie Grundlagenforschung auch die Lehrtätigkeit beeinflusst undwie stark das Interesse an den Grundlagen auch auf die jungenMediziner übergegangen ist, geht daraus hervor, dass heute eingrosser Teil der Dissertationen sich nicht mehr mit Krankheitsheilung, sondern mit Grundlagenproblemen befasst. Die Erfor-
[p. 750]schung der natürlichen Lebensvorgänge wurde an den staatlichen Lehranstalten wohl noch nie so stark gefördert wiegerade heute.
Für die theoretische Erforschung der Naturheilverfahrenim speziellen wurden beim Neubau der Rheumaklinik moderneLaboratorien eingerichtet. Für die Leitung dieser Forschungsabteilung wurde die Stelle eines wissenschaftlichen Mitarbeiters geschaffen. Ausserdem beschäftigt die Klinik fünf Laboranten und Laborantinnen.
Wie sich die Erforschung der theoretischen Grundlagender natürlichen Heilverfahren und der natürlichen Krankheitsverhütung nicht auf eine Klinik oder ein Institut beschränkt, so ist auch die Anwendung der Naturheilverfahrenund die damit verbundene Lehrtätigkeit nicht nur an dieRheumaklinik gebunden, die sich naturgemäss speziell mitdiesen Verfahren befasst. Dies sei an einigen Beispielen stichwortartig angeführt: Bewegungstherapie nach Unfällen undnach Operationen, Nachbehandlung von Kinderlähmungsschäden, gymnastische Vorbereitung zur natürlichen Geburt,konservative Behandlung der Diskusschäden der Wirbelsäule,Übungsbehandlung der Augen (Orthoptik) an Stelle von Schieloperation, physiotherapeutische Behandlung orthopädischerStörungen, Bäderbehandlung in der Dermatologie, Arbeitstherapie in der Psychiatrie, Sonnenbehandlung der chirurgischen Tuberkulose, klimatische Behandlung der Lungentuberkulose, Inhalationen in der Laryngologie, Übungsbehandlungin der Phoniatrie, die Wärmebehandlung bei den verschiedensten Krankheiten, Frischluftbehandlung bei Säuglingserkrankungen, die gesamte Wiederherstellungstherapie. BeimNeubau der Universitätskliniken wurde daher das früher eineAussenstellung einnehmende Institut für physikalische Therapiein die Neubauten einbezogen und zu einem zentralen Behandlungsinstitut für alle Universitätskliniken ausgestaltet. DieLeitung dieses Institutes sowie auch der spezielle Lehrauftragauf dem Gebiete der physikalischen Therapie wurden demDirektor der Rheumaklinik übertragen. Die Schaffung eineszentralen physikalisch-therapeutischen Institutes innerhalb derNeubauten erlaubt es allen Kliniken, ihre Patienten in diesem
[p. 751]Institut behandeln zu lassen. Bei den einzelnen Kliniken wurdenur dasjenige physiotherapeutische Hilfspersonal belassen, dasfür Behandlungen, die nicht zentralisiert werden können, notwendig ist. Es sind dies immerhin noch 12 ausschliesslich physiotherapeutisch tätige Angestellte ohne Mitberechnung derArbeitskräfte, die nur teilweise mit solchen Anwendungenbeschäftigt sind. Der Stellenplan für das physiotherapeutischeHilfspersonal des zentralen Institutes ist dagegen auf 52 diplomierte Angestellte angestiegen. Dazu kommen noch ungefähr20 Physiopraktikerschüler und -schülerinnen des 2. und 3. Lehrjahres, die im Betrieb mitarbeiten. Der ungewöhnlich raschangestiegene Bedarf an physiotherapeutischen Hilfskräften beweist die grosse Bedeutung, die den natürlichen Heilmethodenan den Universitätskliniken zukommt. Der grosse Personalbedarf zeigt aber auch, dass die physikalische Therapie einerelativ teure Behandlungsmethode ist.
Auch auf dem Gebiete der Diätetik wurden bei den Neubauten der Universitätskliniken neue Wege beschritten. DieDiätküchen wurden von der Hauptküche abgelöst und starkausgebaut. Die Verpflegung aller Kranken, nicht nur derKranken mit Spezialdiät, wurde einer Diätleiterin unterstellt.Von allen Patienten des Kantonsspitals (ohne Frauenklinikund Aussenstation) erhalten rund 28 % Spezialdiäten. DasDiätpersonal macht rund 40 % des gesamten Küchenpersonalsaus. Diese Zahlen zeigen den Umfang, den die Diätetik angenommen hat. Sie zeigen aber auch, dass die diätetische Verpflegung vermehrtes Personal benötigt und die Betriebskostenerhöht.
Die ausgedehnte Anwendung der Naturheilverfahren anden Universitätskliniken und die damit verbundene Lehrtätigkeit, die sich nicht nur auf die Vorlesungen und Kursedes Direktors der Rheumaklinik beschränkt, haben dazu geführt, dass sich diese Verfahren in kurzer Zeit weit über dieUniversitätskliniken hinaus in die Breite entwickelt haben.Im Stadtspital Waid wurde ebenfalls eine physiotherapeutische Behandlungsabteilung eingerichtet, die 8 Arbeitskräftebeschäftigt. Das Kantonsspital Winterthur wird ebenfalls einegrosse Behandlungsabteilung erhalten. Auch in den zuletzt um-
[p. 752]gebauten Landspitälern Rüti, Männedorf und Horgen wurdenleistungsfähige physiotherapeutische Abteilungen eingerichtet.Diese Entwicklung in die Breite blieb nicht auf die Spitälerbeschränkt. Verschiedene Ärzte beschäftigen heute physiotherapeutisches Hilfspersonal. Ganz besonders aber haben sichdie Institute der selbständigen Masseure, Physiopraktiker undHeilgymnasten vermehrt und vergrössert.
Die Entwicklung war so rasch, dass mehr physiotherapeutische Arbeitskräfte benötigt werden, als die Physiopraktikerschule des Kantonsspitals ausbilden kann. Diese Entwicklungwäre gar nicht möglich gewesen ohne den Beizug zahlreicherausländischer Arbeitskräfte. Als Beispiel sei nur angeführt,dass rund 50 % des diplomierten Personals des Universitätsinstitutes für physikalische Therapie aus Ausländern besteht.
Der Regierungsrat hat somit die Forschung und Lehreüber das Naturheilprinzip und die Naturheilverfahren an denstaatlichen Lehranstalten stark gefördert. Er wird der weiteren Entwicklung alle Aufmerksamkeit schenken.
Gestützt auf diesen Bericht beantragt der Regierungsrat,die Motion Nr. 845 betreffend Naturheilverfahren als erledigtabzuschreiben.
Zürich, den 22. September 1955.
Im Namen des Regierungsrates.
Der Präsident i. V .:Dr. Heusser.
Der Staatsschreiber:Dr. Isler.