Signatur | StAZH ABl 1975 (S. 764-770) |
Titel | 2022 Bericht und Antrag des Regierungsrates an den Kantonsrat zur Motion Nr. 1449 betreffend Einführung einer obligatorischen Krankenpflege-Versicherung für die gesamte Bevölkerung (vom 23. April 1975) |
Datum | 23.05.1975 |
P. | 764–770 |
Der Kantonsrat hat dem Regierungsrat am 5. Juni 1972folgende von Kurt Rüegg, Wangen, eingereichte Motion zurPrüfung überwiesen:
«Die Diskussion über die Spitaltaxen erbrachte die Tatsache, dass immer noch über 100 000 Einwohner desKantons Zürich keiner Krankenkasse angehören. Besonders älteren Leuten ist keine Möglichkeit geboten, sicheiner Krankenkasse anzuschliessen.
Ich ersuche den Regierungsrat, eine Vorlage zur Änderung des Einführungsgesetzes zum KUVG auszuarbeiten,damit die Krankenpflegeversicherung für die gesamte Be-
[p. 765]völkerung obligatorisch erklärt werden kann. Den Versicherten sollte ermöglicht werden, ihre Spitalkostenversicherung den gestiegenen Kosten laufend anzupassen.»
Der Regierungsrat erstattet hiezu folgenden Bericht:
Das Bundesgesetz über die Kranken- und Unfallversicherrung vom 13. Juni 1911 (KUVG) ist in seinem ersten Teil(Krankenversicherung) im wesentlichen ein Subventionsgesetz. Der Bund hat in diesem Gesetz auf die Ausübung seinerverfassungsmässigen Kompetenz zur Einführung der obligatorischen Krankenversicherung verzichtet; er fördert die Krankenversicherung durch Gewährung von Beiträgen an dieKrankenkassen. Gemäss Art. 2 KUVG sind die Kantone ermächtigt, die Krankenversicherung allgemein oder für einzelne Bevölkerungsklassen obligatorisch zu erklären, wobei esden Kantonen frei steht, diese Befugnis den Gemeinden zuüberlassen. Gestützt auf diese Vorschrift haben 13 Kantonedas kantonale Versicherungs-Obligatorium eingeführt, wovon5 für alle Einwohner mit einem Einkommen bis zu einer bestimmten Höchstgrenze, je einer nur für kontrollpflichtigebzw. landwirtschaftliche Arbeitnehmer, zwei nur für Aufenthalter und vier nur für Schüler. Sieben Kantone haben dieEinführung der Krankenversicherungspflicht den Gemeindenüberlassen und in fünf Kantonen besteht weder ein kantonalesnoch ein kommunales Obligatorium.
Am 13. Oktober 1947 wurde im Kantonsrat eine Motion(Nr. 691) eingereicht, mit der in Punkt 1 die Einführung derobligatorischen Krankenpflegeversicherung im ganzen Kantonsgebiet mit Rücksicht auf die Erweiterung der Tuberkuloseversicherungs-Gesetzgebung und die Einführung desSchirmbildverfahrens verlangt wurde. Der Regierungsratlehnte die postulierte Einführung eines kantonalen Obligatoriums ab. Im Hinblick auf den ablehnenden Volksentscheidvom 22. Mai 1949 über das erweiterte eidgenössische Tuberkulosegesetz, das für die wenig bemittelte Bevölkerung dieVersicherungspflicht allgemein vorsehen wollte, liess auch derMotionär seine Forderung in der Kommissionsberatung fallen.Die Motion Nr. 691 wurde vom Kantonsrat in der Sitzung vom
[p. 766]9. Januar 1950 abgeschrieben (Kantonsratsprotokoll vom9. Januar 1950, S. 2066 ff).
Der Kanton Zürich hat in seinen früheren Einführungsgesetzen zum KUVG aus den Jahren 1916 und 1926 wie auchim geltenden Gesetz vom 3. Oktober 1965 stets die Gemeindenals berechtigt erklärt, die Versicherungspflicht für die wenigerbemittelten Bevölkerungskreise einzuführen. Diese Pflicht giltin Zürich, Winterthur, Küsnacht, Thalwil, Horgen, Wädenswilund Dübendorf. Verschiedene andere Gemeinden, welche dieEinführung des Krankenversicherungs-Obligatoriums inzwischen ebenfalls prüften und zum Teil schon vorbereiteten,mussten darauf verzichten, weil die Stimmberechtigten vorallem aus administrativen und finanziellen Gründen eineZwangsversicherung ablehnten.
Ende 1973 betrug die Gesamteinwohnerzahl des KantonsZürich 1 123 960, wovon 577 120 oder 51,3 % in den Gemeindenmit Obligatorium und 546 840 oder 48,7 % in den übrigen Gemeinden wohnten. Im gleichen Zeitpunkt waren im ganzenKanton insgesamt 1 033 875 Personen oder rund 92 % derWohnbevölkerung bei vom Bunde anerkannten Krankenkassen für Krankenpflege versichert. Werden die im KantonZürich bei privaten Versicherungsgesellschaften für Krankenpflege versicherten Personen, die auf rund 50 000 geschätztwerden können, hinzugezählt, beträgt die gesamte Versicherungsdichte über 96%. In den 7 Obligatoriumsgemeindenunterstanden 153 324 Personen oder 26,56 % der Wohnbevölkerung dieser Gemeinden der Versicherungspflicht. Wärein den übrigen Gemeinden der gleiche Prozentsatz der Bevölkerung dem Obligatorium unterstellt, fielen weitere 145 240Personen darunter. Die Kantonsbeiträge sind für obligatorischVersicherte doppelt so hoch wie für freiwillig Versicherte.Unter Berücksichtigung, dass ein Teil der neu unter das Obligatorium fallenden Personen bereits freiwillig versichert istund für diesen die Beiträge für freiwillig Versicherte ausgerichtet wird, müsste nach den heutigen Obligatoriumsgrenzenund Subventionsansätzen mit zusätzlichen Ausgaben von rund5 Mio Franken gerechnet werden. Die Staatsbeiträge werdenin Prozenten der in der Krankenversicherungsstatistik desBundes ausgewiesenen durchschnittlichen Krankenpflegekosten berechnet. Da diese jährlich um rund 15 % steigen,wären bei einem kantonalen Obligatorium in den umschrie-
[p. 767]benen Grenzen schon im folgenden Jahr weitere Mehrausgaben von 750 000 Franken zu erwarten. Nach der heutigenRegelung gewährt der Staat den anerkannten KrankenkassenBeiträge von rund 29 Mio Franken. Bei einem kantonalenObligatorium in den umschriebenen Grenzen würden diese aufrund 34 Mio Franken ansteigen.
Bei einem generellen staatlichen Obligatorium ohne Einkommensbeschränkung müsste nach den heutigen Subventionsansätzen mit einem Staatsbeitrag von 54 Mio Frankenoder mit Mehraufwendungen gegenüber der heutigen Regelung von 25 Mio Franken gerechnet werden, wozu ebenfallsnoch die jährlichen Erhöhungen durch die steigenden Krankenpflegekosten kämen. Ein kantonales Obligatorium müsstezweckmässigerweise nicht mehr wie bisher von den Gemeinden durchgeführt werden. Die Überwachung der Erfüllung derVersicherungspflicht, zu der die Ermittlung der versicherungspflichtigen Personen nach ihrem Zivilstand und ihrenEinkommens- und Vermögensverhältnissen, die Zuteilung zuden einzelnen Krankenkassen sowie die Feststellung derBeendigung der Versicherungspflicht gehören, müsste voneiner zentralen Stelle unter Einsatz der elektronischen Datenverarbeitung vorgenommen werden. Zu diesem Zweck wäreein kantonales Krankenversicherungsamt zu schaffen, das inVerbindung mit der Computeranlage der kantonalen Verwaltung diese Arbeiten übernehmen müsste. Für ein solches Amtmüssten jährliche Lohn- und Raumkosten von schätzungsweise über 900 000 Franken aufgewendet werden. Hinzukämen noch die Vergütungen für die Benützung der Computeranlagen, die erfahrungsgemäss sehr hoch sind, heute jedoch noch nicht abgeschätzt werden können. Für die Durchführung eines kantonalen Obligatoriums müsste aber mit jährlichen Gesamtkosten von über einer Mio Franken gerechnetwerden.
Die kantonale Krankenversicherungskommission, in derdie Ärzte, Apotheker, Krankenkassen, Krankenanstalten undunabhängige Krankenversicherungs-Fachleute vertreten sind,hat sich an ihrer Sitzung vom 4. März 1975 eingehend mit dervorliegenden Motion befasst und einstimmig beantragt, imjetzigen Zeitpunkt nicht auf die Einführung eines kantonalenKrankenversicherungs-Obligatoriums einzutreten. Es wurdedarauf hingewiesen, dass die Neuordnung der Krankenver-
[p. 768]sicherung sowohl nach der Initiative der SozialdemokratischenPartei wie auch nach dem Gegenvorschlag der Bundesversammlung am 8. Dezember 1974 vom Schweizervolk mit starkem Mehr verworfen wurde. Da beide Vorlagen ein generellesObligatorium (Beitrags- und Beitrittszwang bzw. nur Beitragszwang) vorsahen, bedeute die Verwerfung beider Vorlagenauch eine Ablehnung des Obligatoriums. Weil ausserdem imKanton Zürich bereits über 96% der Bevölkerung gegenKrankheit versichert sind, sei die Einführung eines Obligatoriums auf kantonaler Ebene im jetzigen Zeitpunkt nicht opportun. In Anbetracht der beträchtlichen finanziellen Mehraufwendungen, die ein kantonales Obligatorium mit sichbringe, sei dessen Einführung schon wegen der gegenwärtigenangespannten Finanzlage des Kantons abzulehnen. Eine Ausweitung des Obligatoriums sei entbehrlich, weil es die Selbstverantwortung des Bürgers weiter vermindere. Unverschuldetin Not geratenen Mitbürgern, die keiner Krankenkasse angehören, solle durch gezielte Massnahmen geholfen werden. Esseien genügend finanzielle Mittel (Fonds) vorhanden, die es erlaubten, solche Personen wirksam zu unterstützen. Die Unterstützung bedürftiger, nicht versicherter Personen, bei denen essich heute um Einzelfälle handle, komme die Gemeinden undden Kanton immer noch billiger zu stehen, als die Einführungeines Versicherungs-Obligatoriums. Die Vorteile eines kantonalen Obligatoriums stünden in keinem vernünftigen Verhältnis zu dem damit verbundenen administrativen und finanziellen Aufwand.
Der Kanton Zürich hat seinerzeit die Einführung des Versicherungs-Obligatoriums den Gemeinden überlassen, um denverschiedenartigen Verhältnissen Rechnung zu tragen und umnicht die Gemeinden zu Massnahmen zu zwingen, die von derMehrheit ihrer Bevölkerung nicht gewünscht werden. Die Tatsache, dass heute über 96 % der Bevölkerung bei anerkanntenKassen und privaten Gesellschaften gegen die wirtschaftlichenFolgen von Krankheit versichert sind, beweist, dass sich dasKrankenversicherungswesen im Kanton Zürich dennoch inhohem Masse entwickelt hat. Es besteht daher kein Anlass,den bisherigen Grundsatz, der den Gemeinden die Einführungdes Obligatoriums freistellt, aufzuheben. In der Volksabstimmmung vom 8. Dezember 1974 wurde im Kanton Zürich die sozialdemokratische Krankenversicherungsinitiative mit 63 466Ja gegen 195 110 Nein und der Gegenvorschlag der Bundesver-
[p. 769]sammlung mit 104 489 Ja gegen 145 004 Nein verworfen. Diemit grosser Mehrheit erfolgte Ablehnung der Vorschläge zueiner verfassungsmässigen Neuordnung der Krankenversicherrung lässt den Schluss zu, dass offenbar auch im Zürcher Volkkein Bedürfnis nach einer grundsätzlichen Änderung der bisherigen Regelung des Krankenversicherungs-Obligatoriumsbesteht.
Es gibt heute immer noch ältere Leute, die, obwohl sie aussozialen Gründen einer Krankenversicherung bedürften, sichgrundsätzlich weigern, einer Krankenkasse beizutreten. Anstatt Versicherungsprämien zu leisten, legen sie das Geld inForm von Ersparnissen an, aus denen sie dann im Krankheitsfall die Kosten für ärztliche Behandlung und Arznei bezahlen.Reichen die Ersparnisse nicht aus, wird die öffentliche Handmit gezielten Beiträgen einzuschreiten haben. Wie die Erfahrung zeigt, müssen solche Unterstützungen heute jedochnur noch in Einzelfällen geleistet werden. Die Kategorie derjenigen Leute, die glaubt, sich nicht versichern zu müssen,nimmt von Jahr zu Jahr ab, da die jüngere Generation immermehr davon überzeugt ist, dass ein ausreichender Versicherungsschutz nötig ist.
In der Regel können Personen, welche das 60. Altersjahrüberschritten haben, nach den ordentlichen statutarischen Bestimmungen nicht mehr einer Krankenkasse beitreten. Eshaben nun aber vor allem die grossen Kassen durch befristeteAktionen eine Versicherungsmöglichkeit für über 60jährigePersonen, die noch keine Krankenpflege-Versicherung besitzen, geschaffen. Es wird ihnen Gelegenheit geboten, sichentweder nach Bezahlung einer nach Alter abgestuften Einkaufssumme und monatlicher Prämien voll für Krankenpflegeoder für verhältnismässig bescheidene monatliche Beiträgenur für das Spitalrisiko zu versichern. Diese besondere, fürBetagte geschaffene Spitalversicherung erbringt Leistungenbei Aufenthalt in einem Akutspital, in Spitälern oder besonderen Spitalabteilungen für langdauernde Krankheitenund chronisch Kranke sowie in Nervenheilanstalten, in ärztlich geleiteten oder anderen geeigneten Kuranstalten und
[p. 770]Heimen, in Tuberkuloseheilanstalten und bei Hauspflegedurch diplomierte oder anerkannte Hauspflegerinnen. DieseVersicherung nimmt den Betagten einen Teil ihrer Sorgen ab,indem sie ihnen einen weitgehenden Versicherungsschutzbietet, ohne sie mit allzu hohen Prämien zu belasten. Die Versicherung wird gewährt, wenn der Gesundheitszustand insbesondere mit Bezug auf das Spitalrisiko allgemein gut ist.
Die meisten Krankenkassen geben ihren Mitgliedern vonZeit zu Zeit die Möglichkeit, ihre Spitalzusatz-Versicherungden steigenden Spitaltaxen anzupassen und fordern sie inihren Publikationsorganen oder durch Kreisschreiben auf,ihren Versicherungsschutz zu überprüfen. Den Versichertenwird immer wieder mit gezielten Aktionen Gelegenheit geboten, ohne Rücksicht auf Alter und Gesundheitszustand undohne Vorbehalt zu günstigen Bedingungen Spitalgeld- undSpitalbehandlungskosten-Versicherungen abzuschliessen bzw.die bestehenden Versicherungen zu erhöhen.
Von diesen Aktionen profitieren jeweils alle Versicherten,die im Zeitpunkt der Einreichung des Gesuches um Neu- oderHöherversicherung weder in Spitalbehandlung stehen nochspital- oder kurbedürftig sind.
Da sich die Krankenkassen heute weitgehend selbstdarum bemühen, den noch nicht versicherten Betagten imRahmen des Möglichen einen Versicherungsschutz zu bietenund ihren Mitgliedern laufend Gelegenheit geben, ihre Spitalzusatz-Versicherungen den steigenden Spitalkosten anzupassen, sind in dieser Hinsicht weitere Massnahmen von staatlicher Seite entbehrlich.
Der Regierungsrat beantragt daher dem Kantonsrat, dieMotion Nr. 1449 vom 21. Februar 1972 gestützt auf den vorliegenden Bericht als erledigt abzuschreiben.
Zürich, den 23. April 1975
Im Namen des Regierungsrates
Der Präsident:Stucki
Der Staatsschreiber:Roggwiller