Signatur | StAZH ABl 1989 (S. 1295-1299) |
Titel | 3004 Bericht und Antrag des Regierungsrates an den Kantonsrat zur Einzelinitiative Dr. Martin Forster, Winterthur, und Hans-Rudolf Winkelmann, Zürich, vom 12. Februar 1988 betreffend Lehrstuhl für Erfahrungsmedizin und zum Postulat KR-Nr. 89/1988 betreffend Errichtung einer interdisziplinären Instanz der Medizinischen Fakultät für die sogenannte Erfahrungsmedizin an der Universität Zürich (vom 26. Juli 1989) |
Datum | 15.09.1989 |
P. | 1295–1299 |
KR-Nr. 53/1988KR-Nr. 89/1988
Der Kantonsrat hat am 14. März 1988 folgende von Dr. MartinForster, Winterthur, und Hans-Rudolf Winkelmann, Zürich, am12. Februar 1988 eingereichte Einzelinitiative betreffend Lehrstuhl fürErfahrungsmedizin vorläufig unterstützt und dem Regierungsrat zurBerichterstattung und Antragstellung überwiesen:
«Die kantonale Unterrichtsgesetzgebung ist so zu ändern, dass ander Universität ein Lehrstuhl für Erfahrungsmedizin geschaffenwird.»
[p. 1296]Die klinische Medizin bedarf der Ergänzung durch die Erfahrungsmedizin (oder in der Fachsprache: regulative Medizin) in ähnlicherWeise, wie die hergebrachte Landwirtschaft der Ergänzung durch denbiologischen Landanbau bedarf. Durch die Schaffung eines Lehrstuhlsfür Erfahrungsmedizin an der Universität wird ein sichtbares Zeichengesetzt für die Aufwertung dieser Sparte der Gesundheitspflege. DerLehrstuhl und ein allenfalls einzurichtendes Institut für Erfahrungsmedizin werden Ausstrahlung auf die Praxis haben, zu einem Miteinandervon Schulmedizin und Erfahrungsmedizin führen. Die Erfahrungsmedizin vermag insbesondere beim hohen Prozentsatz der psychosomatischen Erkrankungen bedeutende Erfolge zu erzielen, indem sie nichtnur lindert, sondern durch Aktivierung körpereigener Abwehr auch zuheilen vermag. Dadurch können auch die Kosten für Medikamentegesenkt werden. Lehrstühle für Erfahrungsmedizin bestehen u. a. inWien, Stuttgart, München, Hamburg und Paris.
Der Kantonsrat hat dem Regierungsrat am 25. April 1988 folgendesvon Suzanne Huggel, Hombrechtikon, und Mitunterzeichnern am14. März 1988 eingereichte Postulat zur Berichterstattung und Antragstellung überwiesen:
Der Regierungsrat wird ersucht, gemäss dem verbreiteten Bedürfnis nach ganzheitlichen Behandlungsmethoden an der MedizinischenFakultät eine interdisziplinäre Instanz für die sogenannte Erfahrungsmedizin zu errichten. Beim Gebiet der Erfahrungsmedizinhandelt es sich noch nicht um ein geschlossenes Lehrgebiet, sondernum ein breitgefächertes Spektrum unterschiedlicher Methoden, dieim Kanton Zürich durch viele Ärzte bereits mit Erfolg Anwendungfinden und deshalb überprüft und in geordneter Form weitergegebenwerden sollten.
Der Regierungsrat erstattet dem Kantonsrat den folgenden Bericht:
Die Einzelinitiative verlangt, dass in der kantonalen Unterrichtsgesetzgebung ein Lehrstuhl für Erfahrungsmedizin verankert wird. DasUnterrichtsgesetz bestimmt in § 128 Abs. 2, dass der Staat an den sechsFakultäten ordentliche und ausserordentliche Professuren errichtet. DieKompetenz für die Schaffung von Lehrstühlen an der Universität hat derGesetzgeber dem Regierungsrat zugewiesen (§ 33 lit. a Ziffer 4 des
[p. 1297]Gesetzes betreffend die Organisation und Geschäftsordnung des Regierungsrates und seiner Direktionen). Die Annahme der Einzelinitiativehätte zur Folge, dass ein einziger Lehrstuhl an der Universität in dasUnterrichtsgesetz aufgenommen würde, während die übrigen Lehrstühle mittels eines Regierungsratsbeschlusses errichtet werden.
Im Sinne einer klaren Kompetenzaufteilung zwischen Regierungsratund Kantonsrat/Volk ist ein solches Ergebnis abzulehnen. Der Wortlautder Einzelinitiative liesse zwar auch die Möglichkeit zu, alle Lehrstühlean der Universität im Unterrichtsgesetz festzulegen. Das würde bedeuten, dass konsequenterweise die genannte Kompetenznorm des Regierungsrates aufgehoben werden müsste und der Entscheid über diebestehenden Lehrstühle sowie jede Neuschaffung, Umwandlung undAufhebung eines Lehrstuhls an der Universität den Stimmberechtigtenvorzulegen wären. Einer solchen Lösung, die die Aufgabe der Universität gemäss § 124 des Unterrichtsgesetzes (Sicherung einer höheren wissenschaftlichen Berufsbildung, Bearbeitung und Erweiterung desGesamtgebietes der Wissenschaft) in Frage stellen und der nötigenFlexibilität entbehren würde, kann nicht zugestimmt werden.
Zum Fragenkomplex Erfahrungsmedizin hat der Regierungsratbereits in den Berichten zum Postulat Nr. 2132 betreffend neue medizinische Fachgebiete (Geschäftsbericht 1985), zu einer Anfrage zumgleichen Thema (RRB-Nr. 2013/1986) und zu zwei Motionen betreffendLehrstuhl für Erfahrungsmedizin (RRB-Nrn. 4087/1986 und 2845/1987)Stellung genommen. Die Gründe, die gegen die Einrichtung einesLehrstuhls für Erfahrungsmedizin an der Universität sprechen, werdennochmals zusammenfassend dargestellt.
Die Verfahren der Schulmedizin beruhen auf wissenschaftlich anerkannten Grundlagen und sind durch kontrollierte Studien an einergrossen Zahl von Patienten geprüft worden (z. B. Medikamente durchDoppelblindversuche). Die Erfahrungsmedizin berücksichtigt dagegenauch Methoden, die sich auf Überlieferung und in verschiedenen Fällenauf unüberprüfbare Dogmen gründen. Vertreter der Erfahrungsmedizinsind der Ansicht, dass bei einer Krankheit nicht nur ein einzelnes Organoder System, sondern der ganze Mensch betroffen sei. Deshalb benötigejeder Patient eine individuelle Therapie. Da keine Krankheit bei allenMenschen gleich sei, könne z. B. die Methode des Doppelblindversuchsnicht angewendet werden. Darüber hinaus sind gewisse Vertreter derErfahrungsmedizin der Auffassung, ihre Heilmethoden liessen sich mitnaturwissenschaftlichen Kriterien überhaupt nicht beurteilen, weil sieauf einer nicht naturwissenschaftlich begründeten Philosophie basierten.Die medizinische Fakultät der Universität muss jedoch eine wissenschaftliche Berufsausbildung vermitteln sowie wissenschaftlicheErkenntnis fördern und verbreiten (§ 124 des Unterrichtsgesetzes).
[p. 1298]Hinzu kommt, dass die Erfahrungsmedizin eine Vielzahl verschiedenerSysteme und Methoden umfasst (Akupunktur, Homöopathie, Phytotherapie, Diätetik und anderes mehr) und somit kein in sich geschlossenesLehrgebiet darstellt. Schliesslich ist darauf hinzuweisen, dass die Erfahrungsmedizin verschiedene Heilmethoden, d.h. die Therapie, betrifft.Bis zum Staatsexamen muss sich der Medizinstudent jedoch hauptsächlich mit der Diagnostik beschäftigen. Es lässt sich trotzdem rechtfertigen, den Medizinstudenten bereits im klinischen Studium mit verschiedenen ausserhalb der Schulmedizin stehenden Heilmethoden bekanntzu machen. Auf das Lehrangebot der Medizinischen Fakultät betreffendErfahrungsmedizin wird im Bericht zum nachfolgenden Postulat eingegangen.
Gemäss dem Postulat soll an der Medizinischen Fakultät eine interdisziplinäre Instanz für die sogenannte Erfahrungsmedizin errichtetwerden.
Der Regierungsrat hat in seiner Stellungnahme zu einer Motion vom29. Juni 1987 betreffend Lehrstuhl für Erfahrungsmedizin (RRB-Nr. 2845/1987) festgestellt, dass heute eine erhöhte Nachfrage nachHeilmethoden, die nicht zur Schulmedizin gehören, herrsche. DieserTatsache solle in der Ausbildung der Studenten an der MedizinischenFakultät der Universität Zürich in geeigneter Weise Rechnung getragenwerden. Im weitern wird ausgeführt, dass verschiedene Dozenten derMedizinischen Fakultät bei der Besprechung von Krankheiten Therapieversuche mit Methoden der Erfahrungsmedizin erläutern und dieseMethoden bei ausgewählten Patienten auch durchführen. Ferner wirdauf die Tatsache hingewiesen, dass mit der Einführung des FachesPsychosoziale Medizin und von obligatorischen Lehrveranstaltungen zurHausarztmedizin die ganzheitliche Betrachtung des Patienten und diesoziale Rolle des Arztes in der Ausbildung der Medizinstudenten grösseres Gewicht erhalten haben.
Seit 1987 besteht in der Medizinischen Fakultät eine fakultäre Kommission für Erfahrungsmedizin. Diese organisierte und leitete unterBeizug von Vertretern der Erfahrungsmedizin im Wintersemester 1987/88 und im Wintersemester 1988/89 folgende Lehrveranstaltungen: «Einführung in die sogenannte Erfahrungsmedizin» (Wintersemester 1987/88), «Erfahrungsmedizin in der Schweiz: Gastreferate mit Diskussion»(Wintersemester 1988/89), «Wissenschaftliche Medizin im Kontext heilkundlicher Systeme» (Wintersemester 1988/89). Diese Veranstaltungenwaren schlecht besucht (Wintersemester 1987/88: rund 40 Hörer, wovon8 Medizinstudenten; Wintersemester 1988/89: durchschnittlich 20Hörer, wovon 2 Medizinstudenten). Für das Wintersemester 1989/90 ist
[p. 1299]ein Kolloquium zur Erfahrungsmedizin geplant. Die Veranstaltungen inErfahrungsmedizin richten sich an Medizinstudenten in der klinischenAusbildung. Sie verfolgen gemäss den Richtlinien der Fakultätskommission für Erfahrungsmedizin das Ziel, eine Übersicht über die wichtigstenerfahrungsmedizinischen Verfahren zu bieten und Entstehungsgeschichte, Grundlagen, Indikationen und therapeutische Wirksamkeitder einzelnen Methoden zu erörtern. Dabei sollen die Sichtweisen derSchul- und der Erfahrungsmedizin dargestellt werden. GegenseitigeKritik soll geäussert und erörtert werden. Auch Fragen nach der grundsätzlichen Überprüfbarkeit der Wirksamkeit einer Therapie sowieandere wissenschaftstheoretische und gesundheitssoziologische Themensollen zur Sprache kommen.
Eine interdisziplinäre Instanz für Erfahrungsmedizin würde verschiedene Fachgebiete der Medizin betreuen. Diese Funktion wird von derbestehenden fakultären Kommission für Erfahrungsmedizin wahrgenommen. Die Erziehungsdirektion hat die Medizinische Fakultätersucht, dass die genannte Kommission das bisherige Lehrangebot imRahmen des Studentenunterrichts trotz der bisher geringen Hörerzahlenvorerst für die nächsten fünf Jahre weiterführt. Aufgrund der dabeigemachten Erfahrungen soll die weitere Behandlung der Erfahrungsmedizin innerhalb der studentischen Grundausbildung besser beurteiltwerden können.
Der Regierungsrat beantragt dem Kantonsrat, die EinzelinitiativeDr. Martin Forster, Winterthur, und Hans-Rudolf Winkelmann,Zürich, betreffend Lehrstuhl für Erfahrungsmedizin nicht definitiv zuunterstützen, sondern abzulehnen, und das Postulat KR-Nr. 89/1988aufgrund des vorliegenden Berichts als erledigt abzuschreiben.
Zürich, den 26. Juli 1989
Im Namen des Regierungsrates
Der Vizepräsident:Künzi
Der Staatsschreiber i. V .:Hirschi