Signatur | StAZH MM 24.51 KRP 1918/057/0408 |
Titel | Interpellation Böschenstein (Traktandum 7). |
Datum | 16.12.1918 |
P. | 1312–1317 |
[p. 1312] Am 4. November 1918 haben Böschenstein - Zürich und 38 Mitunterzeichner dem Rat folgende Interpellation eingereicht :
„Was hat die Regierung getan und was gedenkt sie noch zu unternehmen, um für die Unterbringung der Grippekranken geeignete Räume zu beschaffen?
Sind Maßregeln getroffen worden, um die Aufstellung von Krankenbetten in den Korridoren zu vermeiden und die hölzerne Notbaracke beim Absonderungshaus aufzuheben?
In welcher Weise kann der Überlastung des Pflegepersonals begegnet werden?“
Böschenstein führt zur Begründung der Interpellation folgendes aus: Wenn sich die Interpellation in der Hauptsache auf ganz besondere, in den letzten Wochen und Monaten zutage getretene Verhältnisse bezieht, weist sie doch auch auf den ganz allgemein in weitesten Kreisen der Ärzte und der leidenden Bevölkerung gerügten Raummangel in unsern kantonalen Kranken- und Verpflegungsanstalten hin. Der Ausbruch der Grippe-Epidemie hat diesen Übelstand besonders prägnant zum Ausdruck gebracht. Man ist über die innern Ursachen der Grippekrankheit noch nicht völlig aufgeklärt, so viel aber weiß man, daß bei ihr die Prophylaxis eine sehr wichtige Rolle spielt. Die Krankheit wird besonders dann gefährlich und führt sehr häufig dann zum Tode, wenn ihr Anfangsstadium leicht genommen wird. Die Wahrheit dieser Behauptung mußten unsere Soldaten bitter erfahren. Man hielt die grippekranken Soldaten vielfach für Simulanten, denen ärztliche Hülfe überhaupt verweigert wurde, oder die [p. 1313] man ganz falsch behandelte. Es wurde auf diesem Gebiete so viel gesündigt, daß man sich nicht wundern mußte, wenn alle unsere verfügbaren Krankenräume nicht einmal zur Aufnahme der grippekranken Soldaten genügten. So kam man im Lauf des vergangenen Herbstes dazu, die Grippekranken in den Korridoren des Spitals zu placieren, die, wenn sie auch weit, gut beleuchtet und heizbar sind, doch den Anforderungen an ein Krankenzimmer nicht genügen. Die Verhältnisse entwickelten sich dann in der Weise, daß auch die ohnehin eingeschränkten Wohnräume des Wartpersonals als Krankenzimmer verwendet werden mußten. Als die gemauerten Räume des Absonderungshauses sich dem Andrang der Patienten nicht mehr gewachsen zeigten, wurde als Notbehelf eine hölzerne Baracke, nach dem Muster der amerikanischen Baracken an den Schlachtenfronten, aufgestellt. Diese Baracke war noch ungenügender als die Spitalkorridore und ihre Verwendung als Notspital führte zu unzähligen Erkältungen der Patienten und verhängnisvollen Verschleppungen der Seuche. Diese Noträume mögen ja besser sein, als viele private Krankenzimmer, aber das darf für uns weder maßgebend sein, noch als Entschuldigung dienen. Es muß eine der ersten Pflichten unseres kantonalen Gesundheitsamtes sein, für richtige Unterbringung der ihm anvertrauten Patienten zu sorgen und diese namentlich gegen Witterungseinflüsse und Ansteckungsgefahr wirksam zu schützen. Korridore und Baracken mögen als dringendster Notbehelf beim Ansturm einer unvorgesehenen Epidemie dienen, sollten aber so rasch als möglich durch solide Bauten ersetzt werden.
Die Besichtigung der Spitalräume bot dem Interpellanten auch Gelegenheit, sein Interesse den Arbeitsverhältnissen des Pflegepersonals zuzuwenden. Dabei erhielt er den Eindruck, daß Remedur dringend not tue. Die Arbeitszeit dieses Personals geht auf 12–15 Stunden; weder der freie Samstagnachmittag, noch der freie Sonntag können gewährt werden. Die ohnehin übersetzten Anforderungen an das Wartpersonal sind durch die Epidemie noch vermehrt worden; den bescheidensten Wünschen der Krankenschwestern, so dem Wunsch auf männliche Mithülfe beim Transport der Kranken, konnte nicht entsprochen werden. Besonders schwierig gestaltete sich unter solchen Verhältnissen die Behandlung und Verpflegung [p. 1314] der durch Überanstrengung oder Ansteckung der Epidemie verfallenen Krankenschwestern. Man mutet diesen Krankenschwestern sogar zu, daß sie die vermehrten Kosten einer privaten Krankenpflege tragen, während es bei dem Mangel geeigneter Räume und Aushülfskräfte als selbstverständliche Pflicht des Staates betrachtet werden muß, daß er die Krankenschwestern nicht als Demonstrationsobjekte dienen läßt, sondern ihren Begehren um private Krankenpflege willfährt.
In solch schwierigen Lagen, wie sie die Grippe-Epidemie für unsere Spitäler herbeigeführt hat, ist dringend zu wünschen, es möchte der Geist des freien Zusammenarbeitens herrschen und die vielen Anstaltsorgane, von denen ein jedes für ein Stück vom Leben der Patienten verantwortlich ist, zu einem organischen Ganzen verbinden. Die freie Aussprache zwischen obersten und niedersten Funktionären sollte nicht nur gewährt, sie sollte direkt zur Pflicht gemacht werden. Soll den in den drei Positionen der Interpellation indirekt aufgestellten Forderungen nachgelebt werden können, dann müssen auch die äußern Bedingungen einer guten Krankenpflege erfüllt sein.
Sanitätsdirektor Ottiker begründet den Standpunkt der Regierung zur Interpellation. Er spricht sich einläßlich über das Auftreten und den Gang der Grippe-Epidemie aus. Das erste starke Auftreten der Seuche fällt auf Mitte Juli dieses Jahres. Veranlaßt durch einen bundesrätlichen Erlaß und auf Rapporte der Bezirksärzte, der Spitalvorsteher und des kantonalen Ärztevereins hin traf der Regierungsrat beförderlich die nötigen Maßnahmen, um die Gefahr der weitern Ausbreitung auf ein Minimum zu beschränken; er erließ Instruktionen über die Behandlung der Kranken und über Vorbeugemaßnahmen, sprach das Versammlungsverbot und das Verbot des Besuches der öffentlichen Anstalten aus; er ordnete die Anzeigepflicht, den Leichentransport und bewilligte Rekonvaleszenten-Zusatzrationen u. s. w. Die Hauptaufgabe bei allen diesen Maßnahmen, die Pflicht der Aufsicht über richtige Anhandnahme und strikte Durchführung, fiel natürlich den örtlichen Gesundheitsbehörden zu. Als sich im Monat August ein Abflauen der Epidemie zeigte, konnte ein Teil der getroffenen Einschränkungen aufgehoben werden. Leider mußte in außerordentlich zahlreichen Fällen konstatiert werden, wie [p. 1315] wenig Verständnis im Publikum für den Ernst der Seuche, ihren großen Einfluß auf unsere Volkswohlfahrt und für die Ansteckungsgefahr herrschte und wie leichthin die Maßnahmen der Behörden umgangen wurden. Anfangs Oktober zeigte sich dann ein blitzartiges Wiederauftreten, so daß das aufgehobene Versammlungsverbot neuerdings in Kraft erklärt werden mußte. Die Überhandnahme der Seuche steigerte sich derart, daß die Anzeigepflicht der Fälle den ohnehin stark in Anspruch genommenen Ärzten ein Übermaß von Mehrarbeit brachte, dem die Regierung nur durch Vereinfachung der Anzeigepflicht entgegenkommen konnte. Die Regierung stellte dann in Bern das Gesuch, es möchte die Grippe unter die gemeingefährlichen Epidemien rubriziert werden, damit den Kantonen Bundessubventionen für deren Bekämpfung ausgerichtet werden könnten.
Seit dem Ausbrechen der Epidemie stand der Regierungsrat in beständiger Fühlung mit Direktion und Verwaltung der Spitäler. Das Absonderungshaus beim Spital Zürich genügte schon im Anfangsstadium nicht mehr; die Gesundheitsdirektion wurde deshalb ermächtigt, je für Zürich und Winterthur eine Baracke nach amerikanischem System anzuschaffen. Im Oktober wurde es dann nötig, im Spital und im Absonderungshaus in Zürich auch den letzten Platz mit Betten für Grippekranke zu belegen; der Andrang namentlich von Soldaten steigerte sich in der Folge derart, daß auch zur Belegung des seit vielen Jahren unbenützten Pockenspitals geschritten werden mußte. Die Gesundheitsbehörden auf dem Lande mußten sich mit der Einrichtung von kleinen Notspitälern, kleinere Gemeinden mit sogenannten Notkrankenstuben behelfen. Die Stadt Zürich stellte sich anfänglich auf den Standpunkt, die Fürsorge für die Epidemiekranken sei ausschließlich Sache des Staates; schließlich hat sich auch die Stadt, hauptsächlich wegen dem Mangel an Ärzten, dem Vorgehen der größern Landgemeinden angeschlossen und städtische Schulhäuser in Spitalräume umgewandelt. Die Belegung der Korridore war nur ein Notbehelf; sie wurde aufgehoben, sobald sich eine andere Gelegenheit für Unterbringung der Patienten bot. Diese Korridore wurden übrigens nur für Leichterkrankte benutzt; Todesfälle sind dort nicht vorgekommen. Beschwerden über die Verwendung der Korridore sind weder bei der ärztlichen Leitung, [p. 1316] noch bei der Gesundheitsdirektion eingegangen. Die mit Heizvorrichtung versehenen Notbaracken haben den Anforderungen an ein gut eingerichtetes Krankenzimmer vollständig entsprochen. Viele Patienten haben die Versorgung in die Korridore oder Baracken extra gewünscht. Daß die Verhältnisse im Absonderungshaus ungenügend sind, muß zugegeben werden. Die Frage eines Neubaues wird bereits geprüft; der Kantonsrat wird sich im Laufe des kommenden Jahres mit einer bezüglichen Vorlage zu beschäftigen haben. Richtig sind auch die Ausführungen des Interpellanten über die Leistungen des Pflegepersonales, dem der gebührende Dank auch an dieser Stelle ausgesprochen sein soll. Für die Belohnung des Mehrpersonals wurden über die vertraglichen Ansätze hinaus ansehnliche Zuschüsse bestimmt. Die Pflegerinnenschule konnte schließlich das nötige Aushülfspersonal nicht liefern, so daß freiwilliges Sanitätspersonal gesucht werden mußte. Die Samaritervereine leisteten dem Staat in dieser Notlage sehr anerkennenswerte Dienste. Daß unter so außerordentlichen Verhältnissen nicht alles so gut geordnet werden konnte und so glatt ablief, wie man wohl wünschen mochte, dürfte als selbstverständlich erscheinen. Die Verpflegung der erkrankten Schwestern konnte unmöglich in den Privaträumen des Spitals stattfinden; dem vom Interpellanten gerügten Übelstand soll beim Abschluß neuer Verträge mit den Mutterhäusern des Personals Rücksicht getragen werden. Bis heute sind dem Regierungsrat keine Klagen über irgendwelche Unzukömmlichkeiten in der Behandlung der erkrankten Wärterinnen zugekommen; wenn solche eingehen, sollen sie gründlich geprüft werden. Kleine Unstimmigkeiten sind in großen Betrieben unvermeidlich.
Vom Beginn der Epidemie an bis heute sind rund 80,000 Grippefälle offiziell gemeldet worden; nach Erfahrungen muß aber mit einer Zahl von 400,000 gerechnet werden. Fachautoritäten sind der Ansicht, die Seuche lasse sich durch die behördlich getroffenen Maßnahmen – auch durch das Versammlungsverbot – nicht vermeiden; nur ein direktes Bekämpfungsmittel in Form eines Serums könne Abhülfe bringen. Die wirtschaftliche und politische Lage darf auch als Entschuldigungsgrund angeführt werden, wenn zur Bekämpfung [p. 1317] der Epidemie nicht alles so getan wurde, wie es in normalen Zeiten hätte geschehen können.
Interpellant Böschenstein erklärt, es liege ihm ferne, den Gesundheitsdirektor für Dinge verantwortlich zu machen, die außer dem Bereich seiner Amtstätigkeit liegen. Wenn die Beantwortung der Interpellation im allgemeinen befriedigte, so darf doch darauf hingewiesen werden, daß man es anfänglich in den Notbaracken an den nötigsten Requisiten für ein Krankenzimmer fehlen ließ. Der Interpellant vermißte in der Antwort der Regierung die Zusicherung, daß künftig die erkrankten Wärterinnen die Kosten ihrer privaten Verpflegung nicht mehr auf sich zu nehmen haben.
Damit ist die Interpellation erledigt.