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Staatsarchiv des Kantons Zürich

Zentrale Serien seit 1803 online: Kantonsratsprotokolle

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SignaturStAZH MM 24.74 KRP 1964/025/0209
TitelBericht und Antrag des Regierungsrates vom 17. Januar 1963 zum Initiativbegehren Dr. Heinz Müller - Oberengstringen über die Abänderung von Art. 57 KV (Einführung eines Schöffengerichtes)
Datum10.02.1964
P.716–722

[p. 716] Dr. N. Rappold - Zürich, Präsident der vorberatenden Kommission, referiert. Die Kommission beantragt, das Initiativbegehren des Dr. Heinz Müller - Oberengstringen über die Abänderung des Art. 57 der Kantonsverfassung abzulehnen. Der Initiant will durch diese Verfassungsänderung das Schwurgericht durch ein Schöffengericht ersetzen. Um eine Reform des jetzigen Schwurgerichtes vornehmen zu können, muss nicht nur die Kantonsverfassung, sondern auch das Gerichtsverfassungsgesetz revidiert werden.

In den Jahren 1847 bis 1851 wurde über die Gerichtsreform im kantonalen Parlament debattiert. Die überalterten Verfahrensvorschriften sollten beseitigt werden. Im Jahre 1847 wurde eine erste Revisionsvorlage ausgearbeitet, mit dem Ziel, das englische System, also das klassische Schwurgericht, einzuführen. Die Begeisterung für eine solche Revision war dazumal nicht [p. 717] gross. Im Jahre 1851 unterbreitete der Regierungsrat dem Kantonsrat eine neue Vorlage. Die Verfassung wurde abgeändert und das Schwurgericht eingeführt. Das klassische Schwurgericht besteht darin, dass die Laienrichter, also die Geschworenen, den Schuldspruch fällen und der Gerichtshof die Strafe zumisst. Ein weiteres Merkmal des Schwurgerichtes ist die Unmittelbarkeit. Die Geschworenen haben vor der Gerichtsverhandlung keine Akteneinsicht, sondern müssen sich gestützt auf die Verhandlungen ein Urteil bilden.

Im Jahre 1885 wurde im Kantonsrat eine Motion eingereicht, durch die die Trennung von Schuld und Strafe bei der Urteilsfällung aufgehoben werden sollte. Diese Motion ist abgelehnt worden. Die Diskussion um das Schwurgericht ist aber seither nicht verstummt. Sie dreht sich immer um die gleichen Punkte: Sollen die Berufs- und Volksrichter getrennt oder gemeinsam Schuld- und Strafspruch beraten? Soll der Schuldspruch begründet werden? Beim klassischen System lautet der Schuldspruch auf Ja oder Nein. Die Argumente für und gegen das Schwurgericht haben sich seit Jahrzehnten nicht geändert. Eines ist aber nicht stillgestanden: die Entwicklung. Mit der Zeit haben die meisten Kantone, die das klassische Schwurgericht eingeführt hatten, dieses abgeändert. Der Kanton Zürich ist noch der einzige Kanton, der das Schwurgericht in der klassischen unabgeänderten Form beibehalten hat. Es waren auch schon Bestrebungen im Gange, diese Form abzuändern, doch ohne Erfolg.

Seit dem Jahre 1942 ist das schweizerische Strafgesetzbuch in Kraft. Seither kommt eidgenössisches Recht zur Anwendung. Jetzt sind Schwierigkeiten aufgetreten. Der Entscheid der Geschworenen über die Schuldfrage erfolgt im Wahrspruch. Der Wahrspruch besteht darin, dass die Geschworenen entscheiden müssen, ob der Angeklagte schuldig oder nicht schuldig ist. Die Geschworenen müssen diese Frage mit Ja oder Nein beantworten. Früher wurde den Geschworenen nur diese Frage vorgelegt. Es war nicht möglich, zu überprüfen, ob dieser Schuldspruch auf rechtlichen Grundlagen beruhte. Dies hatte keine Auswirkungen, da das eigene kantonale Recht bis zum Jahre 1942 zur Anwendung kam. Seit der Einführung des schweizerischen Strafgesetzbuches hat sich die Situation geändert, weil jetzt eidgenössisches Recht gilt. Nach diesem Recht können Schwurgerichtsurteile an das Bundesgericht weitergezogen werden. Damit das Bundesgericht überprüfen kann, ob kantonale Gerichte das eidgenössische Recht richtig angewendet [p. 718] haben, muss das Bundesgericht wissen, welche einzelnen tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen zu Grunde liegen. Der Wahrspruch der Geschworenen hat hier keine Grundlage gegeben. Das Bundesgericht hat sich zehn Jahre lang, bis zum Jahre 1952, mit dieser Sachlage abgefunden. Im Jahre 1952 wurde ein Schwurgerichtsurteil an das Bundesgericht weitergezogen, das dann den Fall zur nochmaligen Beurteilung zurückwies, weil der Wahrspruch der Geschworenen nicht genüge, um eine Prüfung vorzunehmen. Es wurde vom Bundesgericht erklärt, dass aus dem Schwurgerichtsurteil nicht zu erkennen sei, welche tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen zur Begründung des Urteils geführt hätten.

Der Kanton Zürich wollte dann die gesetzlichen Bestimmungen, dass ein solcher Entscheid des Bundesgerichtes zulässig sein sollte, durch eine Standesinitiative ändern. Diese Standesinitiative wurde aber von den eidgenössischen Räten abgelehnt.

Einen Ausweg suchend, der die bestehenden kantonalen gesetzlichen Bestimmungen am wenigsten ritzte, wurde anstelle einer Frage den Geschworenen ein ganzer Katalog von Fragen unterbreitet. Die Beantwortung dieser Fragen schafft dem Bundesgericht eine Grundlage, die eine Prüfung des Urteils erlaubt. Mit der Aufteilung der Frage ist die Aufgabe der Geschworenen schwieriger geworden. Sie sehen sich gezwungen, zu jeder Behauptung und aber auch zu den rechtlichen Voraussetzungen Stellung zu nehmen. Alles muss in Einklang stehen. Es dürfen keine Widersprüche vorkommen. Besonders dann, wenn den Geschworenen eine Anzahl Varianten unterbreitet werden müssen, wird es kompliziert. Die Geschworenen haben seit der Einführung des Fragebogens eine schwierige Aufgabe. Es ist oft auch schwierig, den Fragebogen aufzustellen.

Das System, das jetzt besteht, genügt auf die Länge nicht. Wenn wir das System des Fragebogens aufrecht erhalten wollen, muss auch das Gesetz abgeändert werden, weil dieser im Gesetz nicht vorgesehen ist.

Eine Reform des Schwurgerichtes drängt sich auf. Die Frage ist nur, wie diese Revision durchgeführt werden solle. Es geht beispielsweise nicht an, von den Geschworenen eine Urteilsbegründung zu verlangen, die vor dem Bundesgericht standhalten könnte.

[p. 719] Eine saubere Lösung ist nur möglich, wenn die Zweiteilung von Schuld- und Strafspruch aufgehoben, Geschworenenbank und Richterstühle zu einer Einheit verschmolzen werden. Dadurch wird zwar das ursprüngliche System des Schwurgerichtes aufgehoben, sein Hauptvorzug wird aber erhalten. Eine Mehrzahl von Laienrichtern findet zusammen mit Berufsrichtern in freier Beweiswertung das Urteil.

Wenn wir diese Reform des Schwurgerichtes durchführen, müssen wir nachher nicht Schöffengericht sagen, sondern wir können dieses Gericht Geschworenengericht nennen.

Das Schwurgericht ist wohl wegen seiner Mystik und seiner Form im Volke stark verankert. Das Misstrauen gegen den übergrossen Einfluss der Berufsrichter bei der gemeinsamen Beratung hat bisher jede Änderung des Schwurgerichtes verhindert. Der Laienrichter muss aber fähig sein, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Wenn er dazu nicht in der Lage ist, fällt das ganze System des Laienrichters zusammen. Wenn sich der Laienrichter im Geschworenengericht vom Berufsrichter beeinflussen lässt, hat der Laienrichter auch im Bezirksgericht nichts mehr zu suchen. Wir müssen das Vertrauen zu den Richtern haben, dass sie aus eigener Überzeugung ein Urteil fallen können.

Die Wandlung vom Erfolgs- zum Schuldstrafrecht verlangt eine Verschmelzung von Schuld- und Strafspruch. Die Geschworenen haben heute schon ein Bedürfnis zu wissen, wie der Strafspruch aussehen wird.

Die Reform des Schwurgerichtes und die Schaffung eines Geschworenengerichtes ist dringend, wobei aber nur das Notwendigste abgeändert werden darf. Die Kommission hat die Ansicht, dass nur eine kleine Revision des Gerichtsverfassungsgesetzes vorgenommen werden sollte. Der Name «Schöffengericht» soll nicht verwendet werden, sondern das neue Gericht soll «Geschworenengericht» heissen. Die bisherige Zahl der ständigen und nicht ständigen Richter soll beibehalten werden. Bei der Akteneinsicht soll auch keine Änderung eintreten, um die Unmittelbarkeit nicht zu stören. Bei der sachlichen Zuständigkeit war die Kommission geteilter Ansicht. In § 71 des Gerichtsverfassungsgesetzes sind die Verbrechen und Vergehen aufgezählt, die vor das Schwurgericht gebracht werden können.

[p. 720] Die Kommission beantragt, die Einzelinitiative von Heinz Müller abzulehnen, weil wir kein Schöffengericht schaffen wollen, aber sie ersucht den Regierungsrat, so rasch wie möglich eine Reform des Schwurgerichtes vorzubereiten.

Dr. A. Schütz - Zürich: Die Fraktion der BGB-Partei stimmt dem Antrag, die Einzelinitiative abzulehnen, zu. Sie hat die Auffassung, dass das Schwurgericht in der jetzigen Form in ein Geschworenengericht umgewandelt werden sollte. Gegen diese Änderung werden im Volke keine erheblichen Widerstände erwachsen. Der Sprecher hält mit der Mehrheit seiner Fraktion dafür, den Kompetenzenkatalog des neuen Geschworenengerichtes in die Revision einzubeziehen; insbesondere sind ihm die allzu komplizierten Betrugsfälle zu entziehen. Beim Unmittelbarkeitsverfahren haben die Geschworenen bei der Beurteilung von solchen Fällen keinen festen Boden unter den Füssen.

Eine solche Abänderung wäre eine Aufwertung und nicht eine Abwertung des Geschworenengerichtes, weil dann tatsächlich dieses Gericht nur noch Kapitalverbrechen beurteilen müsste. Gehören heute Betrüge von 10 000 bis 50 000 Franken zu den Kapitalverbrechen?

Wir wollen das Unmittelbarkeitsverfahren beibehalten. Ohne genaue Aktenkenntnisse ist aber ein Urteil bei komplizierten Betrugsfällen gar nicht möglich. Eine Akteneinsicht durch die Geschworenen ist aber undenkbar.

Beim Geschworenengericht wird jeder Geschworene zum eigentlichen Richter, weil er sich nicht nur zur Schuldfrage äussern muss, sondern auch bei der Strafzumessung mitreden kann.

Wenn § 71 des Gerichtsverfassungsgesetzes bei der Revision schon einbezogen wird, ist dies dennoch eine kleine Revision.

Dr. F. Nehrwein - Zürich teilt mit, dass die Sozialdemokratische Fraktion die Einzelinitiative ablehnt, eine Revision des Schwurgerichtes aber als dringlich hält. Diese Reform kann nicht bis zur grossen Revision der Strafprozessordnung aufgeschoben werden. Das Schwurgericht ist nicht mehr in der Lage, geltendes Recht zu sprechen. Es ist eine legitime Forderung, dass das Gerichtsurteil begründet wird, damit es überprüft werden kann. Durch den eingeführten Fragebogen wird dieser Forderung nicht in befriedigender Weise Rechnung getragen. [p. 721] Wenn wir dem Geschworenengericht die Vermögensdelikte entziehen, verliert es die Hälfte der Fälle. Die Geschworenen sind sicher in der Lage, Vermögensdelikte zu beurteilen. Die Sozialdemokratische Fraktion lehnt es daher ab, dem Geschworenengericht die Vermögensdelikte zu entziehen. Die Laienrichter sollen weiterhin die Verantwortung für ein schweres Urteil mittragen müssen. Dies können sie auch, wenn Schuld- und Strafspruch vereint sind.

Es ist unerwünscht, wenn sich die Geschworenen anhand der Akten auf einen Prozess vorbereiten können. Die Unmittelbarkeit würde darunter leiden. Für die Geschworenen wäre dies auch praktisch unmöglich. Die Frage könnte aber geprüft werden, ob nicht den beiden Beisitzern im Gerichtshof die Möglichkeit eingeräumt werden sollte, vor der Verhandlung in die Akten Einsicht zu nehmen.

Dr. W. Hochuli - Uster: Die Demokratische Fraktion stimmt den Anträgen des Regierungsrates und der Kommission zu. Das Schwurgericht ist seit dem Bundesgerichtsentscheid vom Jahre 1952 notleidend. Es muss dem Bundesrecht angepasst werden. Wir wollen aber kein Schöffengericht, sondern ein Geschworenengericht. Die Einzelinitiative Dr. Heinz Müller ist abzulehnen.

E. Lang - Wetzikon: Das Schwurgericht befindet sich seit dem Jahre 1952 in einem Notstand. Das Bundesgericht könnte sich eines Tages mit dem detaillierten Fragebogen nicht mehr begnügen. Wir müssen den durch das schweizerische Strafgesetzbuch entstandenen Mangel beheben. Die Revision muss sich aber nur auf das Allernotwendigste beschränken. Eine Abänderung des § 71 des Gerichtsverfassungsgesetzes sollte nicht in diese Revision einbezogen werden. Wenn nach der Revision durch den Gerichtshof und die Geschworenen eine gemeinsame Beratung von Schuld und Strafe stattfindet, fallen die Bedenken, die geäussert wurden, dahin.

Dr. H. Bachtier - Zürich: Die Christlichsoziale Fraktion lehnt die Einzelinitiative ab. Sie ist für eine Reform des Schwurgerichtes, weil die Mängel, die ihm anhaften, behoben werden müssen. Sie ist für die Abänderung des Kompetenzenkataloges in dem Sinne, dass ihm die Vermögens- und Urkundendelikte entzogen werden. Die Betrugsdelikte nehmen mit dem wirtschaftlichen Aufschwung zu und werden komplizierter. Die Delikte gegen Leib und Leben sind der Struktur nach einfacher. [p. 722] Auch die Staatsanwaltschaft tritt für eine Beschränkung des Kompetenzenkataloges ein.

Dr. J. Biedermann - Winterthur: Die Freisinnige Fraktion lehnt die Einzelinitiative ab. Sie bekennt sich aber zum Geschworenengericht. Die notwendige Revision muss möglichst wenig Punkte umfassen. Der Kompetenzenkatalog ist nicht abzuändern: Das Volk hat ein Recht darauf, auch bei Vermögensdelikten mitzureden. Wegen der Dringlichkeit der Revision dürfen wir sie nicht mit zusätzlichen Diskussionen, die beim Einbezug des § 71 entstehen würden, belasten.

Da noch 4 Redner eingetragen sind, beantragt der Vorsitzende, die Sitzung abzubrechen.

Der Rat stimmt zu.

Schluss der Sitzung: 12.15 Uhr.

Nächste Sitzung: Montag, den 17. Februar 1964, 8.15 Uhr.

Zürich, den 10. Februar 1964.

Der Protokollführer: E. Stutz

Vom Büro des Kantonsrates an seiner Sitzung vom 16. April 1964 genehmigt.