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Staatsarchiv des Kantons Zürich

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SignaturStAZH MM 3.21 RRB 1907/0001
TitelVormundschaft.
Datum04.01.1907
P.3–4

[p. 3] A. Über den Nachlaß des am 28. Januar 1906 mit Hinterlassung einer Witwe und zweier minderjähriger Kinder in Zürich verstorbenen deutschen Staatsangehörigen Joseph Salberg, Tapetenhändler, wohnhaft gewesen Tödistraße 17, Zürich II, wurde vom Waisenamt Zürich als der Behörde des Wohnsitzes des Verstorbenen am 21. Februar 1906 die amtliche Inventarisation angeordnet.

B. Dieser Beschluß wurde von Rechtsanwalt Dr. Fick in Zürich namens der Frau Witwe Salberg und in der Eigenschaft als Vollstrecker des Testamentes des Verstorbenen unter Berufung auf die seit dem 15. September 1905 in Kraft erwachsene internationale Übereinkunft im Haag, betreffend die Regelung der Vormundschaft über Minderjährige, beim Bezirksrat Zürich auf dem Rekurswege angefochten, mit der Begründung, für den streitigen Fall sei nicht mehr das zürcherische, sondern das deutsche Recht maßgebend. Nach dem zitierten Übereinkommen sei es primär dem Heimatstaat zu überlassen, wie er seine Minderjährigen schützen wolle. Es sei dies in verschiedenen Formen möglich (Vormundschaft, elterliche Gewalt, Beistandschaft). Nur da, wo der Heimatstaat keinen solchen Schutz des Minderjährigen anordne, werde subsidiär dem Wohnsitzstaate das Recht der Fürsorge zugesprochen.

Da die Kinder deutsche Reichsaugehörige seien, seien die Bestimmungen des deutschen bürgerlichen Gesetzbuches über die elterliche Gewalt der Mutter maßgebend (§ 1684 ff.). Die elterliche Gewalt sei nicht geringer einzuschätzen als die Vormundschaft, sondern zum mindesten gleichwertig. Im vorliegenden Falle sei überdies ein ordentlicher Vormund testamentarisch ernannt worden (Testament vom 10. August 1905).

Es sei daher dem Waisenamt Weisung zu geben, sich jeder Einmischung in die vormundschaftlichen Verhältnisse der Frau Salberg, insbesondere der Inventarisation zu enthalten.

C. Das Waisenamt Zürich beantragte dem Bezirksrat Zürich Abweisung des Rekurses, in der Hauptsache aus folgenden Gründen: Der Bezirksrat habe in seinem Entscheide vom 8. Februar 1906 in Sachen der Kinder Gerster erklärt, daß trotz der Haager Übereinkunft die Bevormundung von Ausländern vorläufig nach bisherigem Rechte vorzunehmen sei, da das schweizerische Justiz- und Polizeidepartement noch eine Wegleitung für die Ausführung der Konvention erlassen werde. Gemäß den Ausführungen des schweizerischen Justiz- und Polizeidepartementes selbst bedürfe die Konvention noch ausführender Bestimmungen (Bundesblatt 1896, Seite 411).

Auch wenn nach dem Heimatrecht des Verstorbenen die elterliche Gewalt über die minderjährigen ehelichen Kinder ohne weiteres auf die Mutter übergehen könnte, und demnach die Einleitung einer Vormundschaft hierorts nicht nötig wäre, so folge daraus nicht ohne weiteres, daß die Inventarisation zu unterbleiben habe.

Zunächst habe der Verstorbene die elterliche Gewalt der Mutter nicht allein überlassen, sondern einen Vormund (Beistand) ernannt.

Auch nach deutschem Rechte sei sodann nach des Vaters Tode über das Vermögen der minderjährigen Kinder stets ein Inventar aufzunehmen. Allerdings sei die Inventarisation in Deutschland keine amtliche, sondern es genüge die Einreichung eines von der Mutter und dem Beistände aufgenommenen Inventars beim Vormundschaftsgerichte. Es sei fraglich, ob bezüglich dieser dem formellen Rechte angehörenden Inventarisationsvorschriften die Konvention die Anwendung des Heimatrechtes verlange. Jedenfalls sei es sehr wohl möglich, daß die Verständigung, welche das schweizerische Justiz- und Polizeidepartement allfällig mit Deutschland tretfe, bestimmen werde, daß die Form der Inventarisation sich nach dem Rechte des Domizilstaates richten solle.

Wenn die Inventarisation unterlassen würde, würde dadurch für die Ausländer ein Steuerdefraudationsprivileg geschaffen.

Überdies sei der Rekurs nur von der Witwe Salberg, nicht auch von dem Vormunde beziehungsweise Beistand eingereicht worden.

D. Gestützt auf diese Vernehmlassung des Waisenamtes Zürich wies der Bezirksrat Zürich den Rekurs mit Entscheid vom 22. März 1906 ab, wobei er sich noch ausdrücklich auf Art. 7 der Haager Übereinkunft berief, gemäß welchem, so lange eine Vormundschaft nicht angeordnet ist, sowie in allen dringenden Fällen die zuständigen Ortsbehörden die Maßregeln treffen können, die zum Schutze der Person und der Interessen eines minderjährigen Ausländers erforderlich sind.

(Weiter ist anzuführen, daß der Bezirksrat Zürich in einem andern gleichartigen Falle [Andresen] noch einen Entscheid des Großherzoglich Badischen Amtsgerichtes Karlsruhe vom 7. April 1906 in Sachen der in Zürich wohnhaften Klara Hermann zitierte, durch welchen die Führung der Vormundschaft über die genannte minderjährige Deutsche den zürcherischen Behörden überlassen worden sei, mit der ausdrücklichen Bemerkung, ohne Zweifel hätte nach Art. 3 des Haager Übereinkommens ohne weiteres Eingreifen der Badischen Behörden eine Vormundschaft nach dem Gesetze des Aufenthaltsortes Zürich angeordnet werden können.)

E. Mit Eingabe vom 11. April 1906 erhebt das Advokaturbureau Dr. Fick und Dr. Meyer in Zürich namens der Witwe Salberg, Tödistraße 17, Zürich II, und als Testamentsvollstrecker des Verstorbenen gegen den Entscheid des Bezirksrates Zürich Rekurs und beantragt, es sei derselbe aufzuheben und das Waisenamt Zürich anzuweisen, sich jeder Einmischung in das Vormundschaftsverhältnis der Frau und Kinder Salberg zu enthalten, insbesondere keine Inventarisation vorzunehmen. Der Rekurs werde nicht nur von der Witwe Salberg, sondern auch von den Testamentsvollstreckern, welche die Interessen der Kinder zu wahren haben, erhoben, ferner auch im Einverständnis mit dem Beistande.

Der Bezirksrat dürfe sich nicht einfach über den seit dem 15. September 1905 in Kraft bestehenden Staatsvertrag hinwegsetzen und die Bevormundung von Ausländern vorläufig nach bisherigem Rechte vornehmen, sondern habe denselben anzuwenden und sich mit den vorhandenen Unklarheiten von Fall zu Fall abzufinden. Gemäß den Vorschriften des Haager Übereinkommens richte sich die Vormundschaft über einen Minderjährigen wie das bezügliche Bevormundungsverfahren nach dem Gesetze des Heimatstaates, so daß nach beiden Richtungen deutsches Recht zur Anwendung kommen müsse, ob es sich um eine ordentliche Vormundschaft oder um die elterliche Gewalt der Mutter handle.

Daß im vorliegenden Falle durch den verstorbenen Vater testamentarisch eine Vormundschaft angeordnet worden sei, ändere an der Sachlage nichts, denn das Testament datiere vom 10. August 1905, also aus der Zeit vor dem lnkrafttreten des Haager Übereinkommens, so daß der Testator noch an die Notwendigkeit einer Vormundschaft habe glauben müssen.

Gemäß § 1684 des deutschen bürgerlichen Gesetzbuches, das nun seit dem Inkrafttreten der Haager Übereinkunft auf solche Fälle Anwendung finde, trete die mütterliche Gewalt in Wirksamkeit im Momente des Ablebens des Vaters und müsse daher nicht zuerst eingesetzt werden. Der Hinweis auf Art. 7 der Haager Übereinkunft treffe also nicht zu. Man sei gar nicht «en attendant l’organisation de la tutelle»; auch von einem dringenden Falle (cas d’urgence) könne nicht die Rede sein, wo die zu schützenden Minderjährigen im gleichen Haushalte wie bisher mit ihrer Mutter zusammen in höchst geordneten Verhältnissen leben. Die angeordnete amtliche Inventarisation sei, wie nachstehend noch näher ausgeführt werde, auch nicht erforderlich (nécessaire) nach deutschem Rechte. Ein Schutz der Interessen der minderjährigen Kinder des Verstorbenen sei also gänzlich überflüssig.

Da sich das Bevormundungsverfahren nach dem Gesetze des Heimatstaates richte, sei auch die Inventarisation nach [p. 4] dem Heimatrechte vorzunehmen. Gemäß den §§ 1640 und 1686 des deutschen bürgerlichen Gesetzbuches habe jeder Elternteil beim Ableben des andern über das den Kindern zufallende Vermögen ein Inventar auszufertigen und dem dortigen Vormundschaftsgerichte einzureichen. Zur Einforderung eines solchen Privatinventars sei allein das deutsche Heimatgericht kompetent. Woher das Waisenamt Zürich seine Kompetenz zur Aufnahme eines öffentlichen Inventars herleiten wolle, sei somit unerfindlich. Wenn später, sei es im Einzelfalle, sei es nach einer neuen besonderen Vereinbarung, die deutschen Vormundschaftsbehörden auch da, wo ihnen die Haager Übereinkunft die alleinige Kompetenz einräume, die Rechtshülfe der zürcherischen Vormundschaftsbehörden in Anspruch nehmen sollten, so begründe dies doch noch kein Recht, sich schon heute unaufgefordert in fremde Vormundschaftsverhältnisse zu mischen.

Das deutsche bürgerliche Gesetzbuch sehe auch in den Fällen, in welchen der Mutter, die im Besitz der elterlichen Gewalt sei, ein Beistand bestellt werde, ein privates Inventar vor.

Aus anderweitigen, z. B. steuerpolitischen Gründen dürfe im vorliegenden Falle keine Inventarisation erfolgen.

F. Das schweizerische Justiz- und Polizeidepartement, welches von der Justiz- und Polizeidirektion über diese Angelegenheit in Anfrage gesetzt wurde, erteilte unterm 23. August 1906 folgende Auskunft: Das Abkommen zur Regelung der Vormundschaft über Minderjährige schreibe in Art. 1 vor, daß die Vormundschaft über die minderjährigen Angehörigen eines Vertragsstaates sich nach dem Gesetze des Heimatstaates bestimme. Im vorliegenden Falle handle es sich darum, ob eine Vormundschaft über deutsche Reichsangehörige und zwar über Minderjährige, deren Vater gestorben, deren Mutter aber noch lebe, bestellt werden solle. Nach Art. 1 der Übereinkunft seien somit die Bestimmungen des deutschen bürgerlichen Gesetzbuches über das Verhältnis zwischen Mutter und Kindern beim Vorversterben des Vaters anzuwenden. § 1684 dieses Gesetzes bestimme, daß wenn der Vater gestorben, der Mutter die elterliche Gewalt zustehe; es liege somit in casu kein Fall der Bevormundung (und kein Anwendungsfall der internationalen Übereinkunft) vor. Die Regeln über die Bestellung eines Beistandes, welcher der Mutter gemäß § 1687 des zitierten Gesetzes beigegeben werden könne, werden durch das Übereinkommen nicht berührt.

Was die Frage der Inventarisation anbetreffe, sei nach dem in jedem Kanton geltenden Rechte zu untersuchen, ob die Inventarisation als eine Institution des Vormundschaftsrechtes betrachtet werden müsse oder ob sie einem andern Rechtsgebiete angehöre. Nur, wo das erstere zutrelfe, könne eine Beeinflussung der Grundsätze über die Inventarisation durch die Bestimmungen der Haager Übereinkunft in Frage kommen; wenn dagegen in einem Kantone die Inventarisation eine Maßregel sei, die schlechthin beim Tode eines Vaters oder beim Tode eines Ausländers, aus fiskalischen oder andern Gründen, ohne das Vorliegen eines Vormundschaftsfalles getroffen werden müsse, so sei der Rechtszustand heute der gleiche, wie vor Abschluß der Übereinkunft,

G. Diese Auskunft des schweizerischen Justizdepartementes wurde den beteiligten Vormundschaftsbehörden zur Einsichtnahme und Rückäußerung übermittelt. Mit Vernehmlassungen vom 28. September und 8./17. November 1906 verzichten nun die letztern auf eine weitere Verfechtung ihres bisherigen Standpunktes.

Es kommt in Betracht:

Im vorliegenden Falle erscheint die streitige amtliche Inventarisation als eine vormundschaftliche Maßregel, als eine Institution des Vormundschaftsrechtes und zwar des Vormundschaftsrechtes des Wohnsitzstaates und ist daher im Hinblick auf die gegenwärtige Aktenlage und gemäß der Wegleitung des schweizerischen Justiz- und Polizeidepartements mangels der Voraussetzungen für die Bestellung einer Vormundschaft im Wohnsitzstaate nicht anzuordnen. Auch für ein ausnahmsweises Einschreiten der Behörden des Wohnsitzstaates im Sinne des Art. 7 der Haager Übereinkunft besteht zurzeit keine Veranlassung.

Für die Regelung des Verhältnisses der Witwe Salberg zu ihren minderjährigen Kindern gelten nunmehr die Vorschriften des deutschen bürgerlichen Gesetzbuches über die elterliche Gewalt (Gesetz des Heimatstaates) und es ist auch die Heimatbehörde kompetent, den bezüglichen Vorschriften Geltung zu verschaffen (Einreichung eines Privatinventars).

Die Bestellung eines Beistandes ändert daran nichts, daß die elterliche Gewalt in der Hand der Mutter ruht, Solange dies der Fall ist, besteht nach deutschem Recht kein Vormundschaftsfall. Für künftige gleichartige Fälle wird ausdrücklich freie Würdigung des jeweiligen Sachverhaltes im Einzelfalle vorbehalten.

Nach Einsichtnahme eines Antrages der Justiz- und Polizeidirektion

beschließt der Regierungsrat:

I. Der Rekurs ist begründet, und es wird der angefochtene Beschluß des Bezirksrates Zürich vom 22. März 1906 aufgehoben; demnach wird das Waisenamt Zürich eingeladen, keine vormundschaftliche Inventarisation über den Nachlaß des verstorbenen deutschen Staatsangehörigen Joseph Salberg vorzunehmen.

II. Mitteilung an: a) Das Advokaturbureau Dr. Eick und Dr. Meyer in Zürich I, unter Rücksendung des angefochtenen Beschlusses; b) den Bezirksrat Zürich; c) das Waisenamt Zürich; d) die Justizdirektion.